Den Autor und Lehrer Arne Ulbricht habt ihr bereits durch seinen Gastbeitrag zum Taekwondo kennengelernt. Außerdem hat er mit dem Roman „Schilksee 1990“ gerade einen Roman verfasst, der eine Hommage an die 90er ist und neben einem Vater-Tochter-Konflikt auch ziemlich viel Retro-Geschichten sowie New Model Army beinhaltet. Dazu gibt’s bald mehr Infos. Und nun hat Arne Ulbricht zusammen mit der Familie und den zwei Kindern einen Entschluss gefasst: die vier packen die Koffer und siedeln um von Wuppertal nach Göteborg. Seine Frau ist bereits vorgefahren. Uns wird er von diesem Abenteuer berichten, hier ist der erste Teil:
Irgendwann kam meine Frau jeden Tag ein wenig unglücklicher von ihrer Arbeit zurück. Das Problem: Sie war und ist Hauptverdienerin bei uns, während ich mich anfangs ausschließlich um die Kinder gekümmert und später Teilzeit als Lehrer unterrichtet habe. Natürlich habe ich ihr angeboten, aufzustocken und die klassische Ernährerrolle zu übernehmen. Allerdings könnte ich mir eher Heidi Klum als Bundeskanzlerin als meine Frau als Hausfrau vorstellen. Ihr ging es offensichtlich auch so. Denn sie dachte gar nicht daran zu kündigen oder wenigstens zu reduzieren.
„Bewirb dich weg! Ich gehe zur Not auch mit nach Grönland“, sagte ich schließlich.
Das meinte ich durchaus ernst, aber ich fragte mich: Würde ich wirklich in jedes Land mitkommen? Nee…, dachte ich. Zum Beispiel nicht in Länder, für deren Kultur oder Politik ich kein Verständnis habe. Ohne meiner Frau etwas zu sagen, erstellte ich mein persönliches Ranking: Frankreich und die skandinavischen Länder, für die ich als gebürtiger Kieler eine Schwäche habe, führten das Ranking an. Dann der Rest von Westeuropa gefolgt von Nordamerika. Und Grönland??? Ja… ich mag diese Sommerhitze eh nicht.
Meine Frau schaute sich ein Jahr lang um und bekam einige Absagen. Diese Absagen waren wie der Münzwurf, mit dem man testet, ob man etwas wirklich will. Freut man sich über Kopf oder doch eher über Zahl? Ein Gespräch fand in Wedel statt. Einer Kleinstadt vor den Toren Hamburgs. Ein anderes in Kiel. Die Absage beziehungsweise das Angebot, das nicht annehmbar war… schmerzten mich. Offensichtlich war ich wirklich bereit.
Und das ist nicht sooo selbstverständlich, schließlich fehlt es uns quasi an nichts – wir haben uns hier in einer Komfortzone eingerichtet, um die uns manch einer vermutlich beneidet: Ich habe einen 100%ig sicheren Brotberuf (Lehrer), sie einen Job mit deutlich überdurchschnittlichem Einkommen. Wir Eltern finden Wuppertal nach all den Jahren ein bisschen öde, aber wenn die Kinder glücklich sind und es materiell an nichts mangelt, dann ist der Ärger über fehlende Radwege schon Jammern auf extrem hohem Niveau. All das zählt aber nicht, wenn die Hauptverdienerin morgens aufsteht und man ihr ansieht, dass sie keine Lust hat zur Arbeit zu gehen. (Das muss man wahrscheinlich erlebt haben, um es nachvollziehen zu können.)
Und plötzlich bekam sie eine Zusage. In Göteborg!
„Und… ist das wirklich in Ordnung für dich, wenn ich unterschreibe?“, fragte sie
Sie kannte mein Ranking gar nicht und wusste nicht, dass Göteborg gleich nach Frankreich kam. Dennoch war die Frage berechtigt. Denn nun sprachen wir nicht mehr über eine abstrakte Möglichkeit, sondern es galt, konkret eine Entscheidung zu treffen, die unser Leben auf den Kopf stellt.
„Nein, doch lieber nicht. Uns geht es doch gut hier!“
Oder:
„Ja, wir beginnen ein neues Leben und nehmen die vielen Restrisiken in Kauf!“
In dieser Situation frage ich mich: Habe ich nicht schon immer das Abenteuer geliebt? Jeder Umzug ist ja schon eine Herausforderung, und ich weiß, wovon ich rede: Wuppertal ist die siebente Stadt, in der ich lebe. (Mein Sohn ist Hamburger, meine Tochter Berlinerin.) Ein Umzug ins Ausland – nicht für ein Jahr, sondern, wenn alles klappt, für immer – das ist nicht nur eine Herausforderung, sondern ein echtes Abenteuer. Und war ich früher nicht geradezu süchtig nach Adrenalinschüben? Zum Beispiel, wenn ich durch halb Europa per Anhalter gefahren bin und nicht wusste, wo ich abends übernachten werde. Und diese Anspannung auf einem Taekwondo-Turnier (bis 1999), wenn der Kampf freigegeben wurde… Wahnsinn! Die Adrenalinschübe sind in den letzten Jahren weniger geworden, phasenweise ganz ausgeblieben. Aber ich bin doch nicht 78, sondern 48. JETZT geht noch was. In zehn Jahren vielleicht nicht mehr. Und sind wir nicht JETZT sogar im perfekten Alter – knapp 20 Berufsjahre liegen noch vor uns –, um einen Neuanfang zu wagen? Doch, das sind wir!
„Na klar ist das in Ordnung“, sagte ich.
Aber… es gab da noch einen anderen Grund, weshalb ich „Ja!“ gesagt habe. Dieser andere Grund sind die Kinder. Die beiden sind inzwischen 13 und 17. Papa ist nicht mehr so wichtig. Das schmerzt mich mehr, als ich mir jemals hätte vorstellen können. Freue ich mich auch deshalb, dass ein radikaler Umbruch unmittelbar bevorsteht und die Kinder mich vielleicht wieder brauchen werden? Mit den Kindern selbst haben wir vor der Vertragsunterzeichnung gesprochen. An einem Sommerabend, an dem wir gegrillt haben.
„Kinder, ihr wisst ja, dass ich eine neue Arbeit suche…“
So begann das Gespräch. Ohne dass wir darüber gesprochen hätten, wussten wir, dass dieses Gespräch die letzte Hürde war. Wenn beide Kinder in Tränen ausgebrochen wären und tagelang nicht mit dem Heulen aufgehört hätten, dann hätte meine Frau vermutlich nicht unterschrieben. Aber die Kinder reagierten erstaunlich gelassen. Vielleicht auch, weil sie es geahnt haben. Und weil wir überhaupt keine Wurzeln in Wuppertal haben. Wenn wir die Großeltern besuchen, dann klingeln wir nicht nebenan (wie es hier ungewöhnlich viele Kinder tun), sondern fahren fünf Stunden Zug. Mein Sohn freut sich jetzt, da der Aufbruch unmittelbar bevorsteht, noch immer. (Was uns überrascht.) Meine Tochter ist manchmal nachdenklich. (Was uns nicht überrascht.) Und ich selbst stelle mir gerade tausend Fragen – jede Frage ist wie eine kleine Adrenalinspritze. Die drei wichtigsten lauten:
Werden unsere Kinder an den neuen Schulen glücklich sein und Freunde finden?
Werden wir damit klarkommen, dass wir zunächst weniger Geld haben werden – ich verdiene erstmal nichts! –, obwohl das Leben teurer sein wird?
Werden wir irgendwann Schwedisch verstehen und es bestenfalls fließend sprechen?
Von den Antworten wird abhängen, ob ich das Abenteuer Schweden nicht irgendwann bereuen werde. Momentan bin ich optimistisch und freue mich vielleicht auf die letzte große Herausforderung vor der Rente. Herausforderung? Nee… aufs letzte große Abenteuer!
Arne Ulbricht wird auf Facebook und Instagram ab Anfang Dezember regelmäßig aus Schweden berichten. Und seinen Roman „Schilksee 1990“ stellen wir auch in Kürze vor!