Wenn es um Alkohol geht, liegen oftmals Welten zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit – auch im nüchternen Zustand. Selektive Wahrnehmung sagt man bekanntlich dazu, bei Männern ist die Fähigkeit recht ordentlich ausgeprägt. Das bestätigt folgende Umfrage: 87 Prozent der Männer in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren geben an, Alkohol gar nicht oder nur in „risikoarmen Mengen“ zu trinken (Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2018).
Seit ich (männlich, 51, Feierabend-, Kneipen- und Stadion-Biertrinker) im Dezember 2019 mein letztes Pils getrunken habe, hat sich mein Blick auf den Alkoholkonsum meiner Mitmenschen gewandelt. Ist man einmal aus dem Spannungsumfeld Stammkneipe herausgetreten und sieht sich das feuchtfröhliche Spektakel aus der nüchternen Perspektive von außen an, rückt die Sehnsucht nach einem gepflegten Besäufnis in weite Ferne.
Besoffene Männer sind eine Belästigung
Wenn ich meine alten Bekannten beim Schnapstrinken beobachte, den mit jedem Bier grotesker werdenden Unterhaltungen lausche, die Alkfahnen auch aus drei Meter Entfernung noch rieche, dann kommt zwangsläufig der Gedanke auf: Genau in so einer Runde prahlender Männer, zwischen all diesen eigentlich erwachsenen Kerlen, hast du vorher auch gestanden und bist anschließend besoffen nach Hause gewankt. Oftmals laut, manchmal lallend, fast immer dummes Zeug palavernd, torkelnd, eine Belästigung für andere Menschen, egal ob Taxifahrer oder Mitreisende in der S-Bahn. Peinlich.
Bei euch ist das anders? Ihr trinkt nur ab und zu ein Glas? Ihr beherrscht die Grenze zwischen Suff und Genuss? Sehr gut. Dann gehört ihr zu den 87 Prozent aus der oben erwähnten Studie. Wobei ich unterstelle: Die Umfrageergebnisse stammen aus einer ähnlichen Kategorie wie die Wahlprognosen, die unter dem Phänomen leiden, dass beim Exit-Poll nur ein Teil der Befragten zugibt, die AfD gewählt zu haben.
Wie viele Biere passen in zwei Standardgläser?
Risikoarm bedeutet nämlich: maximal zwei kleine Biere am Tag, bei zwei alkoholfreien Tagen in der Woche. Man möchte fragen: Können einige Männer möglicherweise nur bis Zwei zählen? Wie viele Feierabendbiere passen in diese „zwei Standardgläser“? Wie oft darf man sie wieder auffüllen? Und geht nicht auch noch ein Schnaps mit rein?
Spätestens wenn man merkt, dass die täglichen Feierabendbiere deutlich mehr Gläser füllen, lohnt es sich, über eine Alkohol-Pause nachzudenken. Die positiven Folgen sind auch für Männer über 50 noch überraschend erfreulich (es ist tatsächlich noch nicht zu spät, sich etwas Gutes zu tun). Bereits nach wenigen Wochen kümmert sich die Leber nicht mehr um den Ethanol-Abbau, sondern um die rund 500 anderen Aufgaben, die dem Organ im Körper ursprünglich zugewiesen wurden.
Besserer Schlaf, weniger Gewicht, skurrile Reaktionen
Spürbare Konsequenzen, am eigenen Leib getestet: Ich schlafe besser, wiege weniger, die Haut wirkt jünger, die Leistungsfähigkeit im Sport, im Job und auch beim Sex (sorry for too much information) steigt. Ich verzichte auf die Aufzählung aller weiteren gesundheitstechnischen Benefits. Die meisten von uns haben das alles schon mal gelesen (z.B. in jeder dritten Men’s Health-Ausgabe) und wenn man jetzt nochmal kurz darüber nachdenkt, fällt es einem auch alles wieder ein.
Spannender sind die mitunter skurrilen Reaktionen des sozialen und familiären Umfelds bei Bekanntgabe einer Abstinenz.
- So gibt es Kumpel 1, der anfangs beleidigt bis wütend reagiert, als hätte ich ihm das Trinken verboten: „Was soll das denn jetzt?!“
- Kandidat 2 hingegen wittert eine bis dato gut versteckte und nun offenbarte Schwerst-Abhängigkeit, auf die besondere Rücksicht genommen werden müsse: „Stört es Dich wirklich nicht, wenn ich mir ein Bier aufmache? Also, ein richtiges Bier?“
- Nicht ungewöhnlich sind auch Status-Abfragen per WhatsApp: „Trinkst Du inzwischen wieder Bier? Dann könnten wir uns mal wieder sehen.“
Wer sich von solchen Szenarien nicht abschrecken lässt und auch ein alkoholfreies Experiment wagen will, muss nur ein wenig durchhalten: Nach etwa einem Jahr lassen derlei pubertäre Verhaltensweisen nach. Ein Teil der Kumpels gewöhnt sich an den Zustand oder beschäftigt sich gar mit eigenen Plänen, den Einsatz von Alkohol im Alltag zu reduzieren. Ein anderer Teil meldet sich gar nicht mehr. Auch gut, denke ich mir dann. Bekannte dieser Sorte sind genauso überflüssig wie ein mieser Kater.
Titelbild © Alexey Lysenko (shutterstock)